Ursus & Nadeschkin

Tagebuch

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18.11.2016

"Wir üben uns im Wegschauen"

"Wir üben uns im Wegschauen"

© Surprise; 18.11.2016 - Interview
"Wir üben uns im Wegschauen"

Die Clownin Nadja Sieger, besser bekannt als Nadeschkin, hat am Berliner Grips-Theater ein Theaterstück über Obdachlose inszeniert – für Kinder. Sie möchte bei ihnen ein Umdenken über Menschen auf der Strasse bewirken.

Nadja Sieger, das Stück «Aus die Maus» basiert auf einer wahren Begebenheit. Eine Obdachlose brachte es fertig, über mehrere Monate im Berliner Grips-Theater versteckt zu wohnen. Konnten Sie mit der Frau reden?

Nein, ich weiss nicht, wo die Frau heute lebt. Ich konnte nie mit ihr sprechen. Sie flog auf und durfte nicht mehr im Theater übernachten. Aber es ist erstaunlich: Die Frau schaffte es, monatelang ungesehen am Sicherheitspersonal und beim Portier vorbeizukommen. Sie muss die Situation am Eingang sehr genau beobachtet und einen Trick rausgefunden haben. Das war ziemlich raffiniert.

Sie haben lange über Obdachlose recherchiert. War das Neuland für Sie?

Die Theaterleitung hat mich für Regie und Autorenarbeit angefragt. Mir war von Anfang an klar, dass ich das Stück nicht am Tisch schreiben konnte. Ich wollte mich auf das Thema einlassen. Also begann ich zu recherchieren und möglichst viele Informationen über Obdachlosigkeit in Berlin zu sammeln. Und natürlich ging ich auf die Gasse. Ich besuchte eine Suppenküche und fuhr beim Kältebus mit. Der dreht seine Runden in der Nacht. Die Mitarbeiter versorgen Obdachlose mit Decken und anderer Hilfe, wenn es draussen so richtig kalt ist.

Und wie wurde daraus dann das Theaterstück?

Anhand der Informationen aus der Recherche liessen wir die Schauspieler improvisieren. Sie versetzten sich in das Leben von obdachlosen Menschen hinein. Ich gab ihnen Spielsituationen vor, und was dabei entstand, haben wir gefilmt, ausgewertet und streckenweise als ganze Dialoge abgetippt. So entstand in wochenlanger Arbeit ein Stück.

An wen wendet sich das Theaterstück?

Das Stück ist für 8bis 11-jährige Kinder. Die sind in Berlin härter drauf als in der Schweiz. Je nach Quartier, in dem sie wohnen, sind sie selber mit Armut konfrontiert und sehen täglich obdachlose Menschen. Manche hören schon in diesem Alter die Vorurteile der Eltern: Obdachlose sind faul und nutzlos. Sie sehen, wie die Leute auf der Gasse beschimpft werden. Sie wissen aber nicht, dass das ungerecht ist, und kopieren das Verhalten der Eltern.

Was ist denn härter in Berlin als in Zürich?

Die Anonymität ist gross, und ebenso gross ist die Freiheit. Keiner schaut hin. Das kann toll sein, wenn es dir gut geht und alles rund läuft. Wenn du aber auf der Gasse lebst, kann das im schlimmsten Fall den Kältetod bedeuten.

Sie sind vor allem als Clownin bekannt. Haben Sie diese Rolle ins Stück eingebracht?

Clowns hadern immer mit Regeln und Fehlern. Sie geben dabei nie auf. Auch wenn es längst keinen Sinn mehr macht, nichts kann sie bremsen, sie machen weiter im eisernen Glauben an das Licht am Ende des Tunnels. Insofern sind sie Obdachlosen ähnlich: Sie haben alles verloren ausser dem Glauben, dass es trotz allem, was nicht mehr geht, weitergeht.

Clowns sind aber auch wie Kinder. Es ist ein stetes Auf und Ab mit der Stimmung. Sie sind zu Tode betrübt und dann wieder himmelhochjauchzend, brechen Regeln, funktionieren nicht oder völlig anders im System. Auch hier gibt es eine Parallele zu den Obdachlosen. Auch sie tun unfreiwillig Dinge, die man nicht tun sollte, einfach weil sie gerade nicht anders können.

Clowns und Obdachlose haben also viel gemeinsam?

Clowns, Kinder sowie Obdachlose leben, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, im Moment. Und wer im Moment lebt, verwickelt sich ständig in neue Probleme, lebt dabei aber auch eine gewisse Leichtigkeit. Kaum einer weiss, dass Obdachlose auch lachen können. Aber sie können es.

Haben Sie bei der Arbeit auch Ihre eigenen Ansichten über Obdachlose überdacht?

Bisher wusste ich wenig. Ich kannte aber die Meinung derer, die sagen, wer auf der Strasse lebt, sei selbst schuld, sie seien auf Drogen oder krank und man selber nicht zuständig. Während meiner Recherchearbeit wurde mir etwas Wichtiges klar: Niemand verlässt freiwillig für immer seine Wohnung. Niemand landet gern in solch einer unangenehmen Lebenssituation. Es steckt immer eine Verkettung von Schicksalsschlägen dahinter. Hinzu kommt, dass Eigenschaften wie Stolz oder Scham keine guten Ratgeber sind für den Weg zurück ins warme Daheim.

Inwiefern?

Als ich mit dem Kältebus in der Nacht unterwegs war, lehnten viele Obdachlose einen Schlafsack ab. Sie waren launisch in ihrem Unglück, wollten ihre Ruhe. «Jeder kann auf der Strasse enden»: Diese Aussage begegnete mir oft im Gespräch mit Leuten, die hier täglich helfen, und immer wieder fragte ich mich, ob das auch stimmt. Erst war der Job weg, dann die Frau, die Familie, der Freundeskreis, und dann? Wer mit Obdachlosen redet, weiss: Sie erzählen einem nie die ganze Wahrheit. Warum auch? Viele verstehen ja selber nicht, warum ihr Leben so schiefgelaufen ist.

Kann ein Theaterstück Verständnis für Obdachlose schaffen?

Wir schauen täglich weg, weil wir so gar nicht wissen, was wir für diese Menschen tun könnten. In Berlin begegnet man je nach Kiez 15 Obdachlosen pro Tag. Man gibt einem oder zweien was, die anderen übersieht man. Im Theater lernen wir das Gegenteil: hinschauen, bei «Aus die Maus» 75 Minuten lang. Die Zuschauer erfahren verschiedene Geschichten, wieso Obdachlose so sind, wie sie sind. Sie lernen deren Ziele und Träume kennen und haben die Chance, etwas zu erfahren, was sie sonst nicht erfahren können, wollen oder dürfen.

Was passiert im Stück «Aus die Maus» konkret?

Ein Schauspieler will in der Rolle der coolen Zaubermaus seine Erfolgstheorien vom glücklichen Leben präsentieren. Die obdachlose «Kippe» erwacht hinter dem Vorhang und kommt ins Scheinwerferlicht, um zu schauen, was hier gespielt wird. Der Schauspieler wird sauer, weil er mit dieser Frau auf der Bühne sein Stück nicht weiterspielen kann. Aber die Obdachlose kurzerhand rauswerfen geht eben auch nicht, denn Kippe wohnt heimlich im Theater. Es ärgert den Schauspieler zudem, dass das Publikum fast mehr über Kippe lacht als über ihn. Sie parodiert ihn und lockt ihn aus der Reserve, bis er zu ihr sagt: «Die lachen nur, weil du eine Pennerin bist. Weil du nichts kannst!» Es gab Testvorstellungen, da schrien ein paar Kinder im Publikum: «Ja, er hat recht, du bist scheisse.» Andere hielten dagegen. Ein echter Konflikt. Anfänglich handelt der Schauspieler gegen Kippe. Dann erfährt er ihre Geschichte und wird empathisch. Die Zuschauer erleben das genauso. Einige wechseln während des Stückes von der einen Seite auf die andere. Das Stück schafft Nähe, Trauer, Freude und Versöhnung. Kurz: Man begegnet einer Obdachlosen auf Augenhöhe.

Maus: «Kennt ihr das: Es gibt Tage, da springst du morgens aus dem Bett und freust dich, weil alles einfach grossartig ist.»

Kippe: «Ick hab keen Bett!»

Maus: «Das ist doch blöd jetzt, vor den Kindern, alle hier haben ein Bett. Oder gibt’s jemanden, der kein Bett hat?»

Kippe: «Ich.»

Maus: «Um Sie geht es nicht, es geht um die Kinder.»

Kippe: «Aber wenn jetzt, zum Beispiel, sie hier (sie zeigt auf ein Kind) später mal obdachlos ist, und Sie jetzt sagen, darum geht’s hier nicht ...»

Maus: «Die werden doch später nicht obdachlos!»

Kippe: «Wieso denn nicht?»

Maus: «Ja, aber hallo? Die gehen alle zur Schule.»

Kippe: «Da draussen gibt es Tausende, die obdachlos sind, die sind alle zur Schule gegangen, also fast ...»

Maus: «Ja, aber wir werden nicht obdachlos!»

Kippe: «Wer ist denn wir? Wer sind denn Sie und wer bin ich?»

Bei Ihren Recherchen für das Stück haben Sie herausgefunden, dass es in Deutschland kaum Statistiken über Obdachlose gibt.

Es ist schwierig, Obdachlose zu zählen. Viele verstecken sich. Trotzdem gibt es Städte, die sich mehr um diese Menschen kümmern als Berlin. Aber was man nicht zählt, zählt nicht. Dabei wären hier die Zahlen enorm wichtig. Zum Beispiel in der Politik, wo sich Dinge oft erst verändern, wenn sie zu fassen und zu beweisen sind. In Berlin gibt es bislang nur Schätzungen: Man redet von rund 40 000 Wohnungslosen. Davon leben 6000 auf der Strasse. Angeboten werden gerade mal 600 Notschlafplätze. Ausserdem schätzt man, dass 60 Prozent der Obdachlosen nicht aus Berlin sind, sondern aus dem Osten, 20 Prozent stammen aus den ländlichen Gegenden Deutschlands, und nur 20 Prozent sind aus Berlin selbst.

Wagen Sie einen Vergleich mit der Situation in der Schweiz?

Berlin wird derzeit immer mehr ein Magnet für Randständige, ähnlich wie das früher der Platzspitz in Zürich für Drogensüchtige war. In den nächsten drei Jahren soll die Anzahl der Obdachlosen in Berlin laut Schätzungen um 60 Prozent zunehmen. In der Schweiz ist man von solchen Zahlen meilenweit entfernt. Hier gibt es auch mehr Institutionen, die sich dieser Menschen annehmen. In Berlin gibt es auch Personen, die sich für Hilfszentren einsetzen, aber es gibt zum Beispiel keinen Pfarrer Sieber. Ich glaube, in der Schweiz geht es den Obdachlosen besser, wenn sie denn Hilfe annehmen wollen.

Sie haben einen Sohn. Haben Sie ihn beim Schreiben für das Kindertheater um Rat gefragt?

Mein Sohn ist bald sechs Jahre alt. Er hat das Stück schon bei den Proben gesehen. Und ja, er war mir ein Ratgeber. Das Gute an seinem Alter ist, dass er noch keine Vorurteile hat. Er nimmt die Figuren im Stück so, wie sie sind. So wie die Leute miteinander umgehen, so kommt es von ihm zurück. Wenn ich ihm Geld für einen Bettler gebe, gibt er ihm das gerne einfach weiter. Er ist wertungsfrei und begegnet den Obdach- losen auf Augenhöhe, solange ich nichts Negatives sage über diese Leu- te. Als Mutter versuche ich ihm zu vermitteln, dass das Wichtigste ein respektvoller Umgang mit sich und anderen Menschen ist. Man soll zu sich Sorge tragen.

im Stück so, wie sie sind. So wie die Leute miteinander umgehen, so kommt es von ihm zurück. Wenn ich ihm Geld für einen Bettler gebe, gibt er ihm das gerne einfach weiter. Er ist wertungsfrei und begegnet den Obdachlosen auf Augenhöhe, solange ich nichts Negatives sage über diese Leute. Als Mutter versuche ich ihm zu vermitteln, dass das Wichtigste ein respektvoller Umgang mit sich und anderen Menschen ist. Man soll zu sich Sorge tragen.

Text: Beat Camenzind
Foto: Geri Born

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